kommentare/autoren/prof. ulrich horstmann 'fernpass zu sinwel''




Wolfgang Sinwel ist ein Drifter, und die Betrachter seiner Bilder werden es auch. Unverse-hens. Sie treiben durch den Himmel und blicken nach unten auf womöglich ramponierte, aber doch ausheilende vor- oder nachzivilisatorische Landschaften, auf erdähnliche Planeten, die noch kein menschliches Auge erblickt hat. Sie schwimmen mit dem Strom, und unter ihnen tun sich unberührte (dämmer-)lichtdurchflutete Unterwasserwelten auf – wiederum Regionen einer Andersartigkeit und eines nie gekannten Seelenfriedens, der damit zu tun hat, daß sich der Mensch aus diesen Zonen herausbewegt oder überhaupt heraushält bzw. vom Künstler herausgehalten wird.

Auch Eisberge driften. Und so ist es kein Wunder, daß der Maler samt der mitreisenden Augenzeugen eines Tages in arktischen Gefilden ankommen mußte. Inzwischen gibt es mehr als ein halbes Dutzend einschlägiger Arbeiten, und ich möchte vier davon – gegen die Entste-hungschronologie – zu einer Geschichte hintereinanderschalten. Sie ist in der mir bekannten Literatur erst dreimal erzählt worden und in der Malerei möglicherweise noch nie und handelt von den Segnungen des Erkaltens.

Mary Shelleys Frankenstein von 1818 liefert sozusagen die Urfassung, und eineinhalb Jahrhunderte später haben sie Kurt Vonnegut in Cat’s Cradle (1963) und J.G. Ballard in The Crystal World (1966) wieder aufgegriffen und umgeschrieben. Vorgeführt wird in allen drei Fällen das Wiedereinrenken einer aus den Fugen geratenen Welt. Bei Shelley findet es in den erhabenen Eiswüsten um den Nordpol statt, in denen der mit seinem Schiff vom Einfrieren bedrohte Polarforscher Walton sowohl dem verzweifelten Experimentator Frankenstein wie auch dem von ihm geschaffenen Monster begegnet. Dem „modernen Prometheus“ geht es nur noch ums Ungeschehenmachen, das sich aber aufgrund der übermenschlichen Konstitution seines Geschöpfs als unmöglich erweist. Das bei Shelley namenlose Monster ist dem ihn verfolgenden Sterbenden hoffnungslos überlegen, überläßt sich aber, verkürzt gesagt, dem Gro-ßen Erkalten rundum. Walton schwört seinem Entdeckerehrgeiz ab und macht kehrt. Die Menschen sind aus dem ewigen Eis, der monströse Fremdkörper ist aus der Schöpfung verschwunden.

In Vonneguts Roman sorgt die Erfindung und der unbeabsichtigte Einsatz der Geheimwaffe Ice-Nine – ein Eis, dessen Gefrierpunkt bei Raumtemperatur liegt – für das Ende aller Probleme. Die Bananenrepublik San Lorenzo, in der sich die globale Verkommenheit wie in einem Brennglas verdichtet, erstarrt in einem großen „AH-WHOOM“ und mit ihr die Welt-meere und der Rest des Planeten. Auch Ballards tendenziell globaler Auskristallisierungsprozeß stellt alles Leben still, schafft zugleich aber mit der Paravereisung und den Rauhreifeffek-ten eine Schneewittchenatmosphäre.

Diese Ästhetisierung ist augenfällige Begleiterscheinung auch in Wolfgang Sinwels Version desselben ‚Zaubermärchens’ in vier Aufzügen. „Eiszeit 03“ (2009) führt uns Ballard-affin die Verwandlung einer Hangsiedlung in ein Permafrostmilieu vor, in dem sich die funktionslos gewordenen Unterkünfte jetzt wie Eisschollen übereinanderschieben. Caspar David Friedrichs „Gescheiterte ‚Hoffnung’“ läßt grüßen, und die Verlustängste unterkühlter Bausparer sehen sich schockgefroren. Im „Schlittengespann“ von 2010 werden wir Zeugen des Rückzugs der Störenfriede. Mit dem blutenden Kadaver, dem einzigen ‚Farbfleck’ auf der Leinwand, hinterlassen die Robbenschläger noch einmal die Visitenkarte ihrer Gattung. Aber die Übermacht einer von ihren Widersachern „menschenfeindlich“ genannten Natur ist bereits unübersehbar. Mit „Eismeer“ tauchen wir in sie ein wie ein schwimmender Eisbär, der sich durch zwei koexistierende Aggregatzustände des Wassers bewegt. Im Triptychon „unberührt“ von 2008 schließlich sind wir im Eispalast, im frostigen Paradies, in der wiederhergestellten elementaren Harmonie angekommen. Auch das bestens angepaßte Tier und seine Atemwolken sind daraus verschwunden. Die fast abstrakten Strukturen und Farbnuancen des Eises genügen sich selbst, leben aus sich. Frieden auf Erden. Die Gletscherwände sind Gemälde. Sinwel malt sie so, als ob sie nie einen Maler gebraucht hätten. Ars celare artem? Auch und mehr noch: die Kunst, das vom menschlichen Zugriff, von der menschlichen Vernutzung Erlöste durch gekonnte, durch fast kaltblütige Zuwendung wieder heraufzubeschwören.
 
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