kommentare/autoren/prof. ulrich horstmann 'fernpass zu sinwel''




Jeden Sommer arbeitet der eingefleischte Wiener Wolfgang Sinwel ein paar Wochen in Tirol. Ehrwald, der unweigerliche Tatort, steht in jedem Reiseführer, die gastfreundliche Familie Bucher, die das Atelier zur Verfügung stellt, auch. Die Gegend ist bildschön, aber wetterwendisch. Warum sucht sich Sinwel kein verläßlicheres Licht? Toskana, blinkt und blitzt es von einer entgegenkommenden Frontscheibe; Südafrika, sagt meine Frau hinter ihrer Sonnenblende, die luilekkerland, zu dem Sinwel über Bruder und Schwägerin fast schon familiäre Bindungen besitzt. Aber nein, der malt in seiner Wetterküche. Verstehe, wer will.

Wenn man Glück hat, kommt einem das Rätsel bis zum Fernpaß entgegen und steigt von einem Rastplatz mit Burghotel vorneweg in die Tiefe, wo der Bergsee - prospektierlich - ruht. Auf ihm wiederum ruhen Wasservögel mit langen Hälsen, Neuschwansteiner Brut, tretbar und bei Mißbrauch mit Strafverfolgung drohend. Der See droht nicht in seiner Ruhelage, und deshalb sind wir hier, sind wir noch eine Paßhöhe vom Atelier entfernt schon in Sinwels Bildern angekommen, die diese Da-seins-Weise teilen. Sicher doch, das kalte Juwel ist touristisch voll erschlossen, und das Gedümpel, der Lärm, die Abgasschwaden aus den Serpentinenschlingen, die Wellen der Stippvisiteure lassen sich nicht leugnen. Von uns nicht - der See hat damit keine Probleme. Er verhält sich nach der Wiener Maxime ’Nicht mal ignorieren!’, liegt ungerührt, ja unberührt, obwohl sich eine Hochzivilisation an ihm vergriffen hat, ihn saisonal begrapscht. Dieses 'ganz woanders’, diese Uneinholbarkeit, dieses Bei-sich-Sein und Ohne-uns, das Naturbelassene, Naturgelassene, die Intransigenz des unmenschlich Intakten malt Wolfgang Sinwel.

Aber er spricht nicht darüber. Die pathetischen Vokabeln, die doch die einzigen sind, die wir haben, nehmen nur seine Interpreten in den Mund. Ihr Auslöser redet hier unten über Schwierigkeiten, Wasseroberflächen, Wasserunterwelten wiederzugeben, erwähnt bewundernd einen Kollegen und vergißt sich dabei. Folgsam verlieren wir uns auch, wie man sich in Sinwels Arbeiten verliert, im Glasklaren, auf schlammlasiertem überkalkten Grund, zwischen Wasserpflanzenwäldern, in der Luftblasenspur eines Taucherpaares, das der See ebenso mühelos veraußerirdischt hat wie die maulsperrige Forelle von vorhin. Verwunschenheit ... Mit tausend Nadelstichen rückt das Elementare dem Elementaren zu Leibe, macht uns Beine vehikelwärts, regnet sich ein.

Die Wetterküche zeigt, was sie kann. Sinwel auch. Wir sitzen im Atelier, über dessen Fensterschräge mal Schlieren rinnen, mal Wolken stauen, hinter denen wiederum Bannwälder erscheinen, Felsmassive, die dem erneuten Verschlucktwerden doch nicht widerstehen. Auf der Leinwand das gleiche unentwegte Wechselspiel. Sinwel arbeitet zurückgenommen, zügig, aber nicht pausenlos mit Pinsel, Lappen, Terpentin. Ein Souverän nicht ohne stechenden Geruch, der doch nie herrisch dekretiert, was zu geschehen hat, sondern herauslockt und heraufbeschwört. Kein Kampf, kein Krampf, kein Überfall aufs Ungestalte, sondern ein Hervorrufen fremder, eigenartiger, verlockend-unbetretbarer Welten wie aus dem Reservoir demiurgischer Maßlosigkeit. Eine zeitlupenhafte, meditative, sublime, singuläre Variante jenes Zapping, das Sinwels jüngster Sohn Dominik im Nebenzimmer praktiziert, nein, das Urbild aller elektronischen Nachstellungen. Wie der Bergseeforelle klappt einem der Kiefer herunter angesichts der visuellen Wechselbäder, in denen aus Unterwasserwelten Flugbilder entstehen und umgekehrt, ausgearbeitete Areale von einer neuen Farbwolke auf Nimmerwiedersehen verschluckt werden, der Lappen eine breite Morgennebelschneise schlägt durch Fertiges mit ungeahnter Fertigkeit, feine Tröpfchen Lösungsmittel sich Luft machen und sie aufperlen lassen - bis die Feinmotorik Ruhe gibt und der Kopf gutheißt. Dann steht das Bild, und die äußere Dynamik ist in innere überführt. Das Geopferte, Versunkene darunter trägt das Sichtbare wie ein viellagiges Floß die kostbare Fracht. Sinwel, der Transportvirtuose, wäscht sich die Hände.

Das Wetter ist umgeschlagen. Die Sonne fährt auf der Gondel zur Zugspitze, verdampft den voreiligen Schnee auf dem Wetterstein, trocknet hier unten die Bilder. Unsere Abreise steht an. Über den Fernpaß geht es zurück. Aus dem Staunen in den Stau.
 
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